Ist es nicht schon eine Art Kompromiss, wenn die Ukraine einverstanden ist, auf dem Bürgenstock auch über Chinas Friedensplan zu sprechen?
Das sehe ich nicht als Kompromiss. Die Ukraine hat uns angefragt, die Konferenz zu organisieren. Sie ist interessiert daran, dass eine Diskussion geführt wird. Inwieweit die Ukraine eines Tages Kompromisse eingehen wird, ist ihr souveräner Entscheid. Darauf können wir keinen Einfluss nehmen.

Der Ukraine fehlt es seit Monaten an Waffen, vor allem, weil die USA keine mehr liefern. Das Land gerät militärisch immer stärker unter Druck – eine schlechte Ausgangslage für Verhandlungen mit Russland. Beunruhigt Sie das?
Es ist fraglich, ob sich die Lage tatsächlich verschlechtert. So pauschal würde ich es nicht sagen. Es laufen derzeit viele Gespräche über neue Unterstützungspakete – zum Beispiel in den USA. Wenn dieses Paket bewilligt wird, hat das einen grossen Einfluss auf die militärische Schlagkraft der Ukraine. Und auch Europa will mehr Unterstützung leisten.

Die Reparationszahlungen und die Frage, wie Russland für die Kriegsverbrechen büssen muss, sind zentral. Wird das auf dem Bürgenstock ein Thema sein?
Ich gehe nicht davon aus.

Weshalb? Lassen Sie dieses Thema aussen vor, nur um Russland entgegenzukommen?
Es sind internationale Diskussionen im Gang, ob und wie die eingefrorenen russischen Gelder für Reparationszahlungen verwendet werden können. Das sind heikle juristische Fragen. Aber solange der Krieg noch im Gange ist, ist es nicht die Zeit für Reparationen.

Die Schweiz will 5 Milliarden Franken für den Wiederaufbau der Ukraine bezahlen, insgesamt kostet dieser gemäss Schätzungen 440 Milliarden. Leistet die Schweiz als eines der reichten Länder der Welt genug?
Wir leisten einen grossen Effort und haben schon viel unternommen – gerade auch im humanitären Bereich, bei den Minenräumungen. Und was man grundsätzlich über die Schweiz sagen kann: Wir kündigen Hilfe nicht nur an. Wir stehen zu unserem Wort.

Was muss passieren, damit Sie persönlich die Konferenz als Erfolg betrachten?
Für mich kann schon vor dem Abschluss der Konferenz klar sein, dass es ein Erfolg war. Und zwar dann, wenn wir eine grosse und möglichst breite Beteiligung erreichen. Nicht nur von westlichen Ländern, sondern auch aus Asien und dem globalen Süden. Und wenn eine echte Diskussion und ein Austausch stattgefunden haben.

Dann setzen Sie die Hürde etwas höher an als Aussenminister Ignazio Cassis, der vor den Medien gesagt hat, China sende positive Signale – und dann meinte: «Ziel erreicht».
Wir haben rein diplomatisch schon sehr viel erreicht. Ich merke es jetzt schon im direkten Gespräch: Wir haben international ein besseres Standing als noch vor der Initiative. Vor der Ankündigung des Gipfels habe ich immer gehört: Die Schweiz macht zu wenig. Jetzt ist die Stimmung gegenüber der Schweiz positiv. Für unser Land ist das ein Gewinn. Aber wir wollen natürlich auch einen Gewinn für den Friedensprozess erreichen, nicht nur für uns.

Wie spürt man diese positive Stimmung gegenüber der Schweiz?
Bis vor kurzem war bei vielen internationalen Kontakten das erste Traktandum immer die Schweizer Wiederausfuhrbestimmung für Waffen und Munition. Da spürte ich jeweils wenig Verständnis. Das ist heute weniger ein Thema. Jetzt spüre ich, wie dankbar viele sind, dass die Schweiz die Initiative ergreift und etwas unternimmt. Natürlich können wir heute noch nicht sagen, wie es ausgehen wird. Aber wenn wir nichts unternehmen, als Land mit einer langen humanitären Tradition, wer dann?

Wenn nach diesem Treffen nichts unterschrieben wird, wenn man einfach eine gute Zeit in einem Schweizer Luxusresort verbracht hat: Was bringt das dann der Ukraine?
In einer solchen Situation ist jeder Dialog wertvoll! Das Schlimmste wäre, nichts zu unternehmen und einfach aufzugeben. Wenn man sieht, wie es der Zivilbevölkerung geht, wie in diesem Land so viel kaputt gemacht wird – das kann uns nicht egal sein. Das geht auch uns etwas an. Und natürlich arbeiten wir darauf hin, dass wir eine gemeinsame Schlusserklärung präsentieren können.

Sie haben betont, wie wichtig die militärische Unterstützung aus den USA sein wird. Dort sind im Herbst Wahlen. Donald Trump hat bereits angekündigt, bei einer Rückkehr ins Weisse Haus die Unterstützung für die Ukraine einzustellen. Was würde das für den Konflikt bedeuten?
Das ist völlig hypothetisch. Klar ist: Die USA sind ein wichtiger Bestandteil der Nato und damit auch der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur. Und klar ist auch: Es gibt keine Garantie, dass das für immer so bleibt. Darum laufen in Europa auch Bestrebungen, sich künftig noch besser eigenständig verteidigen zu können.

Diese Bestrebungen sind ja gut und recht. Aber bis im November, bis zu den Wahlen, wird Europa kaum militärisch unabhängig werden. Entsteht da nicht eine gefährliche Situation, wenn Trump gewählt wird und es dann heisst: America first?
Weniger Unterstützung aus den USA wäre sicherheitspolitisch eine schwierige Situation für Europa und die Schweiz – falls es tatsächlich eintreffen sollte. Genau deshalb ist es wichtig, dass auch wir in der Schweiz unserer Verteidigungsfähigkeit stärken, dass wir unsere Hausaufgaben machen. Wir können uns, gerade als reiches Land, nicht einfach auf unsere Nachbarn und die Nato verlassen. Wir müssen unseren Beitrag leisten …

…was laut Armeechef Thomas Süssli schwierig ist. Er hat gesagt, sollte das Armeebudget nicht rasch erhöht werden, könne die Schweiz nicht wieder verteidigungsfähig werden.
Herr Süssli hat aufgezeigt, welche Konsequenzen es hat, wenn das Budget erst bis 2035 auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts erhöht wird – und nicht bereits 2030.

Die Schweiz würde ihr Heer verlieren, hat er gesagt.
Es würde temporäre Fähigkeitslücken im Heer geben, ja. Die Armee ist schon länger dran, ihre Ausgaben so zu priorisieren, damit diese Lücken so klein wie möglich sind und möglichst bald behoben werden.

Die estnische Premierministerin Kaja Kallas sagte kürzlich, sie rechne damit, dass Putin in den nächsten fünf Jahren ihr Land angreifen könnte. Fürchten auch Sie, dass der Krieg sich in Europa ausbreitet?
Das ist schwierig zu sagen. Estland ist aufgrund seiner Geschichte und seiner Geografie in einer ganz anderen Lage als die Schweiz. Aber ja, natürlich – ein solches Risiko lässt sich nie ausschliessen.

Was würde eine Ausdehnung des Konflikts für uns bedeuten?
Selbst wenn wir nicht konventionell militärisch angegriffen würden – was aktuell nicht zu erwarten ist –, wären wir von einer grösseren Unsicherheit betroffen. Die spüren wir ja schon heute; ich denke an Lieferketten, an Desinformation, an Cyberattacken. Je weiter sich ein Krieg ausdehnt, desto instabiler wird das Gesamtsystem.

Innenpolitisch haben Sie diverse Probleme: zwei Wechsel an der Spitze der Ruag, schlechte Kommunikation zur Finanzlage der Armee, Berichte über Probleme beim Nachrichtendienst. Sind Sie froh, dass der Fokus im Moment auf dem Ausland liegt?
Als Bundespräsidentin leite ich ja immer noch mein Departement! Die Departementsführung ist immer noch eine meiner Hauptaufgaben. Zu den departementalen Aufgaben kommen die internationalen Kontakte hinzu. Und ich sage sicher nicht: «Hier geht mir etwas auf den Wecker, komm lass uns eine Auslandsreise machen.» (lacht)

Was hat Selenski Ihnen eigentlich am Telefon gesagt?
Dass er sich freut, dass die Konferenz nun stattfindet, und er hat sich bei der Schweiz für die Initiative und das grosse Engagement bedankt.

Kommt er auch?
Das hoffe ich doch!

«Für die Ukraine ist noch nicht der Moment für Kompromisse»